„Haus Tugendhat“ erzählt die Geschichte des singulären Bauwerkes zunächst aus den unterschiedlichen Perspektiven der Kinder von Grete und Fritz Tugendhat: der Kunsthistorikerin Daniela Hammer-Tugendhat, der Psychoanalytikerin Ruth Guggenheim-Tugendhat und des Philosophen Ernst Tugendhat. Das Themenspektrum reicht von Kindheitserinnerungen aus Brünn und Caracas, Erfahrungen von Emigration und Rückkehr bis zu den nunmehr zwanzigjährigen Auseinandersetzungen mit alten und neuen Politfunktionären, Lobbyisten und Profiteuren um ein symbolträchtiges Erbe. Den Filmemacher Dieter Reifarth interessieren die Beharrlichkeit der Familienmitglieder, aber auch deren Überdruss durch die jahrzehntelange Auseinandersetzung, ihr Gefühl von Entrechtung und ihre schwierige Verantwortung für ein Kunstwerk von hohem Rang. Der Film erzählt von jener bemerkenswerten Geduld zwischen Altruismus und Anspannung, mit der die Familie Tugendhat Offizielle erträgt, die sich gerne mit einem Titel wie „UNESCO-Weltkulturerbe“ schmücken, ohne ihm aber durch verantwortliches Handeln gerecht zu werden. Und er beschreibt den Umgang mit einem schwierigen Vermächtnis: Kurze acht Jahre konnte die Familie das Haus bewohnen, lange siebzig Jahre musste sie sich mit seinem Verlust auseinandersetzten.

Die Geschichte des Hauses, seiner Bewohner und Nutzer, dokumentieren mehrere eindrucksvolle Bildzyklen: In den dreißiger Jahren entstehen die professionellen Architekturaufnahmen von Rudolf de Sandalo und die Kleinbildfotografien des Amateurs Fritz Tugendhat. De Sandalos Bilder sind visuelle Interpretationen der Architektur, die ihre formale Schönheit betonen. In ihrem Detailreichtum, ihrer Präzision und stilistischen Strenge entsprechen sie geradezu kongenial den Intentionen Mies van der Rohes. Mit symmetrischen Kompositionen und der Betonung des natürlichen Lichts schafft der Fotograf ein optisches Pendant zur Ästhetik des Neuen Bauens.

Einen ganz anderen Blick vermitteln die Amateuraufnahmen des Hausherrn. Fritz Tugendhat lässt beim Bau der Villa im Keller eine Dunkelkammer und auf der Wohnebene einen Projektionsraum einrichten und experimentiert bereits Anfang der dreißiger Jahre mit der Farbfotografie. Er bedient sich komplizierter Umdruckverfahren wie Pinatypie und Duxochromie (dabei werden drei Kameranegative als additive Schichten – Rot, Gelb, Blau – im Positiv zusammenkopiert). Minimale Farb- und Konvergenzverschiebung – untrügliche Spuren seiner aufwendigen Laborarbeit – wirken manchmal wie gewollt und verleihen den Bildern eine gewisse Entrücktheit und Poesie.

Die Schwarzweißaufnahmen des Familienlebens in Brünn sind von filmischen Sichtweisen geprägt. Erzählerische Bildfolgen, variierende Einstellungsgrößen, berücksichtigen das Ineinandergreifen von Brennweiten, Aufnahmewinkeln und Blickachsen. Von besonderem Interesse sind neben zahlreichen Fotografien auch Fritz Tugendhats 16mm-Filme aus den dreißiger Jahren und der Emigrationszeit in Venezuela und der Schweiz.

Seit Ende der fünfziger Jahre begleitet der Brünner Fotograf Miloš Budík das Haus Tugendhat. Er dokumentiert mit seiner Mittelformatkamera vor allem die physiotherapeutische Behandlung der Kinder und Jugendlichen im einstigen großen Wohnraum des Hauses Tugendhat. Daneben zeigt er den Schulunterricht auf Liegen in den oberen Räumen, Untersuchungen von Skoliosepatienten, Wartende in der Sprechstunde und spielende Kinder im Garten. Manche seiner Fotografien sind menschenleer, sie zeigen die raureifbedeckte Trauerweide, Spiegelungen, Licht und Schatten in den großen Fenstern – Kompositionen von seltsamer Anmut und Melancholie.

„Haus Tugendhat“ wechselt zwischen retrospektiver Betrachtung und Gegenwartserfahrung. Die filmische Transkription der Architektur im Prolog wird von einem schnörkellosen dokumentarischen Stil kontrastiert, etwa durch die Begegnungen mit den unterschiedlichen Nutzern des Hauses, in deren Erzählungen sich die vergangenen Jahrzehnte mosaikartig verdichten. Ihre Erinnerungen erschließen die Nachkriegszeit mit den zahlreichen Umwidmungen des Hauses und kommentieren die Ironie seiner Geschichte. Denn ausgerechnet jenes Haus Tugendhat, welches die Kritik der dreißiger Jahre als „neuzeitliches Schloss“ und „allzu bombastisch“ verurteilte und für ein bourgeoises Repräsentationsobjekt hielt („wie viele Einfamilienhäuser oder Wohnungen hätten dafür gebaut werden können?“), ausgerechnet dieses Haus war über Jahrzehnte hinweg buchstäblich für Alle da – nur nicht für seine Erbauer.

Eine weitere Ebene des Films widmet sich der Restaurierung und damit der Zukunft. Ivo Hammers Arbeit erzählt von „Haut und Zeit“. Der Restaurator und Konservator für Wandmalerei befasst sich seit Jahren mit historischen Architekturoberflächen. „Die Oberfläche ist das interface, die Vermittlungsebene zwischen Architektur als Volumen, als umbautem Raum, als Design einerseits und dem Betrachter andererseits. Unsere Augen sehen Formen, Gegenstände immer durch Vermittlung einer Oberfläche“. Ivo Hammer sichert historische Spuren, untersucht Techniken, bewertet Materialien, analysiert die Dynamik von Schäden und entwickelt differenzierte Konzepte für Reparaturen, Konservierung und nachhaltige Pflege. Als Wissenschaftler attackiert er den akademischen Mainstream mit seinen Thesen zur „Materiality”, dem Extrakt jahrzehntelanger handwerklicher Erfahrungen mit historischer Bausubstanz. Der Film zeigt, wie er mit einem pneumatischen Mikromeißel Schlämme und Anstriche abträgt, originale Fassadenoberflächen – die eigentliche Haut des Baukörpers – freilegt, ihre Beschaffenheit untersucht und deren „ästhetische Prinzipien“ deutet. Er stellt zum Beispiel fest, dass der ursprüngliche Fassadenputz des Hauses Tugendhat weder glatt noch weiß war, sondern mit dem gelblichen Ton und der rauen Oberfläche des benachbarten Travertin korrespondierte. Ivo Hammer will „Geschichte erhalten, nicht erfinden“. Eine gute Maxime, auch für den Film „Haus Tugendhat“.